Grußwort an Bischof Scharf 1962

D. Dr. Heinrich Grüber L.H.D.

 

WIR SIND ALLE SCHULDIGE –  das ist durch den Eichmann-Prozess wieder einmal offen bar geworden. Dass wir damals als Deutsche und als Christen Schuld auf uns geladen haben, wagt heute kaum einer zu leugnen, es sei denn er ist selbst einer der Hauptschuldigen von damals und versucht sich zu tarnen. Neben den Hauptschuldigen von damals stehen die potentiellen Schuldigen von morgen. Es sind die, die gegen die Schuld ihr eigenen Leid aufrechnen und sie so zu kompensieren trachten. Das ist eine der größten Sünden unserer Zeit, denn beides Schuld und Leid, gehört vor Gottes Thron; ER allein kann die Schuld vergeben, ER allein kann das Leid segnen und es zur Quelle neuer Liebe werden lassen. Wir, die wir um unser eigenes Versagen und Ver säumen wissen, müssen erkennen, dass wir mit unseren Vätern und Urvätern in Schuld verbundenheit stehen, und wir müssen es der kommenden Generation bezeugen, dass auch sie an unserer Schuld mitzutragen hat. Denn wir alle stehen unter dem Gericht  d e s Gottes, der die Sünden der Väter heimsucht an den Kindern bis ins dritte und vierte Glied;  wir stehen aber auch unter der Gnade d e s  Gottes, der das Haus seiner Knechte segnet ewiglich.

 

Im Eichmann-Prozess fragte man mich, wie es habe kommen können, dass ein ganzes Volk ohne Widerspruch so viel Schreckliches geschehen ließ. Diese Frage ist eine Frage an uns alle. Wie war es damals? Wir haben nur uns gesehen, unser Volk und unsere Art, und haben von daher das „Recht“ abgeleitet, den „Anderen“ rücksichtslos zu beseitigen. Mit Antikomplexen fängt es an, und mit Massenvernichtung hört es auf, das gilt für damals und das gilt für heute. Aus unserer Vergangenheit erwächst uns die Aufgabe, dafür zu sorgen, dass alte unvergebene Schuld nicht neue Schuld hervorbringe.


Verträgt sich das mit der Gewaltlosigkeit, die wir heute predigen? Gewaltlosigkeit ist für uns nicht Gleichgültigkeit oder Passivität. Im Gegenteil, wer dem Verbrecher nicht in den Arm fällt, macht sich zu seinem Komplizen. Jesus, der in der Bergpredigt seinen Jüngern sagt: „Wenn dich jemand auf die rechte Backe schlägt, so halte ihm auch die linke hin“, fordert den Kriegsknecht, der ihn schlägt, mit harten Worten zur Rechenschaft, um ihn von weiterer Rohheit abzuhalten. Die Gewaltlosigkeit muss für uns stehen unter der primären Forderung der Liebe, das heißt wir sollen zunächst den  anderen sehen und dann uns. Den anderen lieben, das heißt weiter, wir dürfen ihn nicht schuldig werden lassen, sondern müssen ihn davor behüten. Als ich einmal einen Machthaber wegen einiger Gefangener aufsuchte, sagte ich ihm: „Ich komme wegen der Gefangenen, ich komme aber auch Ihretwegen. Ich möchte nicht, dass Sie noch mehr Schuld auf sich laden“.

 

Wir sollen uns nicht den Mächten beugen, die Jesus Christus ans Kreuz geschlagen haben, sondern wir wollen in einer Welt voll Hass und Tod den Auferstandenen preisen und den Geist der Pfingsten erbitten. Eine Frömmigkeit, die dem aus Hochmut gezeugten Hass Raum gibt, und eine Kirche, die Antikomplexen nicht entgegenwirkt, macht sich erneut schuldig. Sie lässt sich in ihren Methoden auf das Niveau derer herabziehen, die sie verachtet und bekämpfen zu müssen glaubt. Gewaltlosigkeit aber ist höchste Einsatzbereitschaft; wer sich zu ihr bekennt, muss in der ersten Reihe stehen, um Angriffe und Schläge für den anderen auf sich zu nehmen.

 

Du, lieber  Kurt Scharf, weißt Dich als Schuldner der Juden und Heiden. Gott segne Deinen demütigen Dienst in der Leitung der Evangelischen Kirche in Deutschland; ER führe  sie durch Deinen Einsatz dahin, dass auch sie, in der Erkenntnis der alten Schuld und in dem Auftrag an der Gemeinde, sich wisse als Schuldnerin der Juden und der Heiden.


Quelle: 

Heinrich Vogel (Hrsg.)  „Männer der Evangelischen Kirche in Deutschland“

Eine Festgabe für Kurt Scharf zu seinem 60. Geburtstag;  Berlin – Stuttgart 1962