Ralf Gebel: Ruhe jetzt. Wir bauen eine Nation.

Ralf Gebel,

„Ruhe jetzt.
Wir bauen eine Nation“
Die Leiden der Holocaust-Überlebenden passten anfangs
gar nicht zum Selbstbild der zionistischen Gesellschaft. Erst mit
dem Eichmann-Prozess vor 60 Jahren wurde die Erinnerung
an den Völkermord Teil der israelischen Identität


 

Vor 60 Jahren, am 11. April 1961, begann in Jerusalem der Prozess gegen den SSObersturmbannführer Adolf Eichmann, einen der wichtigsten Organisatoren der Ermordung der europäischen Juden. Der israelische Geheimdienst Mossad hatte den früheren Leiter des „Judenreferates“ im Reichssicherheitshauptamt der SS in Argentinien aufgespürt, entführt und nach Israel gebracht. Das Gerichtsverfahren gegen Eichmann wurde zu einem der am meisten beachteten Prozesse der jüngeren Geschichte. Er trug viel zum Verständnis des Nationalsozialismus und der Täter bei; Hannah Arendt führte die „Banalität des Bösen“ als Erklärungsmuster ein. Als Eichmann zum Tode verurteilt und im Juni 1962 hingerichtet wurde, hatte, durch den Prozess ausgelöst, auch eine tiefgreifende Veränderung in der jungen israelischen Gesellschaft eingesetzt. „Das Gewäsch alter Leute“ Verdrängung der jüngsten Vergangenheit gab es nicht nur im Land der Täter, sondern auch im Land der Opfer – wenn auch aus ganz unterschiedlichen Gründen. Aus heutiger Sicht scheint es kaum vorstellbar, gehört doch die Erinnerung an die Shoa ganz offenkundig zur israelischen Identität. Aber erst der Prozess gegen Eichmann führte dazu, dass die Leiden der Überlebenden und ihrer ermordeten Familien in Israel intensiv in den Blick genommen wurden – in einem Land, in dem zu dieser Zeit fast ein Drittel der jüdischen Bevölkerung Überlebende der Shoa waren. Es gab jedoch damals einen tiefen Abgrund
zwischen den im Land geborenen Juden und den vor der Shoa ins Land gekommenen Zionisten einerseits sowie den nach 1945 einwandernden Überlebenden des Völkermords andererseits.

 

Der niederländische Schriftsteller Harry Mulisch, der den Prozess gegen Eichmann in Jerusalem erlebte, berichtete von der Begegnung mit einem jungen Kibbuznik an einem der ersten Prozesstage. Der junge Mann hielt das Verfahren „für das Gewäsch alter Leute“, die mit seinem Leben nicht viel zu tun hatten: „In einer halbmilitärischen Gemeinschaft“ aufgewachsen, „in einem Gemeinschaftskindergarten ohne Zigaretten oder Kino und mit einem Feind am Ende der Äcker erzogen, kann er sich nicht über das offizielle Elend seiner Eltern aufregen. Er findet, dass sie allmählich einen Schlussstrich darunterziehen sollten“ – und das im Jahr 1961! Amos Oz schildert in seinem großen autobiografischen Roman „Eine Geschichte von Liebe und Finsternis“ den Eindruck, den die israelischen Juden auf Neuankömmlinge aus der europäischen Diaspora machten. Ihnen mochten die Arbeiter auf der Ben-Jehuda-Straße in Tel Aviv zunächst wie „Zigeuner oder Türken“ vorkommen, aber es waren „sonnengebräunte Juden“, „kräftig und fröhlich“: „Solche Juden hatte ich noch nie gesehen, außer auf Bildern.“ Viele Überlebende nahmen hebräische Namen an, aus einem Veilchenfeld mochte ein Har-Zion (Berg Zion) werden, aus Hans ein Eitan (Stark). Aber die Integration war für viele Europäer schwerer als der Wechsel ihres Namens, auch wenn Israel für sie das gelobte Land war, das einen Neuanfang als Jude unter Juden versprach. Der Schriftsteller Aharon Appelfeld erzählte symbolträchtig von einem Jungen aus Polen, der von seinen Kameraden verprügelt wurde, weil seine Haut von der Sonne nicht braun wurde, so sehr er sich auch Mühe gab. Er blieb in den Augen der anderen ein blasser und schwächlicher Schtetl-Jude.

 

Vielen Überlebenden fiel es schwer, über ihre traumatischen Erfahrungen während der Shoa zu sprechen. Häufig litten sie unter Schuldgefühlen. Diese verdichteten sich in der Frage, warum ausgerechnet man selbst – möglicherweise als einziges Familienmitglied – überlebt hatte. Auf der anderen Seite gab es viel Misstrauen, gipfelnd in der Frage: Hatte jemand vielleicht nur überlebt, weil er besonders rücksichtslos gewesen war? Vielleicht sogar mit den Deutschen kooperiert hatte? Unerklärlich blieb für viele mit dem Gewehr in der Hand aufgewachsene Israelis auch, warum die Juden Europas sich – ihrer Meinung nach – „wie Lämmer zur Schlachtbank“ hatten führen lassen. „Plötzlich begriff ich“, so ein Beobachter des Eichmann-Prozesses, dass die Israelis sich sogar „derer schämten, die gefoltert, erschossen, verbrannt worden waren“: Sie entsprachen so ganz und gar nicht ihrem Selbstbild. Der neue, zionistische Jude sollte stark und wehrhaft sein, das Gegenteil eines geduckt lebenden Getto-Juden, alles andere als ein Opfer. Geradezu verächtlich schauten Israelis mitunter auf die Überlebenden der Shoa herab. Und so entstand in dem jungen Staat das, was sein erster Ministerpräsident David Ben-Gurion als „Barriere aus Blut und Schweigen und Qual und Einsamkeit“ zwischen den beiden Gruppen bezeichnete.

 

Zu dieser Barriere beigetragen hatte natürlich die schwierige Situation Israels, das auch nach dem Sieg im Unabhängigkeitskrieg von 1948 militärisch immer bedroht blieb. Das ganze Land konnte von gegnerischen Geschützen erreicht werden. Zwischen der jordanischen Westbank und dem Mittelmeer lag nur ein schmaler Streifen Israel, an der engsten Stelle gerade 15 Kilometer breit. Die Sicherheitslage war permanent angespannt, und auch wirtschaftlich blieb das Land in einer dauerhaft schwierigen Situation. Während der ersten Jahre waren Lebensmittel rationiert und konnten nur über Coupons bezogen werden. In nur 42 Monaten nach seiner Gründung nahm Israel 685.000 Einwanderer auf – bei 655.000 jüdischen Einwohnern. Das war eine unglaubliche Leistung, politisch, ökonomisch, sozial. Das Leben war dementsprechend hart und bescheiden. Die vorherrschende Stimmung fasste der bekannte Journalist Ari Shavit so zusammen: „Ruhe jetzt. Wir bauen eine Nation. Stellt keine unnötigen Fragen. Ergeht euch nicht in Selbstmitleid. Wir müssen jetzt all unsere Kräfte sammeln und uns auf die Zukunft konzentrieren.“ „Niemand hat uns irgendetwas gefragt“, erinnerte sich dementsprechend eine Überlebende: „Sie haben uns einen Arbeitsplan in die Hand gedrückt und uns zur Arbeit eingeteilt.“ Es konnte aber für die Traumatisierten noch schlimmer kommen, wenn sie doch einmal gen. Die Sendungen wurden im ganzen Land verfolgt – an Lautsprechern und Transistorradios auf den Straßen, in Cafés und Geschäften, in Fabriken und Schulen und natürlich zu Hause. „Immer war das Radio eingeschaltet“, erinnerte sich die damalige Außenministerin Golda Meir. „Der Prozess beherrschte alles. Das ging mir ebenso wie allen anderen.“ Eine Art nationale Gruppentherapie So entwickelte sich das Verfahren zu einer Art nationaler Gruppentherapie. Viele junge Israelis, aber auch viele Juden, die aus den arabischen Staaten nach Israel gekommen waren und die Shoa nicht selbst miterlebt hatten, hörten zum ersten Mal, was viele ihrer Mitbürgerinnen und Mitbürger mitgemacht hatten. „Zuhören war Folter“, schrieb Generalstaatsanwalt Hausner, der die Anklage gegen Eichmann vertrat. Dramatischer Höhepunkt war für viele die Zeugenaussage von Yechiel De-Nur, der unter dem Pseudonym Ka-Zetnik zwei Bücher über seine Zeit in Auschwitz geschrieben hatte.

 

Er brach im Gerichtssaal unter der Last der Erinnerung ohnmächtig zusammen. In der Folge setzte ein Prozess der Identifikation mit den Opfern und Überlebenden ein, selbstkritische Stimmen über ihre Behandlung zuvor wurden laut. „Wir müssen die Unzähligen, die wir insgeheim verurteilt haben, um Vergebung bitten“, schrieb ein israelischer Prozessbeobachter. „Wir, die wir in einer anderen Welt lebten. Wir haben oft über sie geurteilt, ohne uns zu fragen, welches Recht wir dazu hatten.“ Viele Überlebende erfuhren jetzt Interesse, Respekt und sogar Verehrung. Selbst Hausners Tochter Tamar Raveh, damals 15 Jahre alt, hatte vor dem Prozess nicht viel über die Shoa gewusst. In ihrer Klasse, erzählt sie am Telefon, seien zwei nach ihren Erlebnissen gefragt wurden und sie in der Lage waren, darüber zu sprechen: Manchmal glaubte man ihnen ihre schrecklichen Geschichten einfach nicht. Oft wollte man sie aber gar nicht erst hören, es sei denn, es handelte sich um Geschichten des heldenhaften jüdischen Widerstands gegen die Nazis, wie etwa vom Aufstand im Warschauer Getto. Diese passten eher zum Selbstbild des wehrhaften Israelis. Erst mit dem Prozess gegen Eichmann änderte sich in Israel die Wahrnehmung der jüngeren Vergangenheit und der Überlebenden. Mehr als 100 von ihnen wurden von der Anklage als Hintergrundzeugen aufgeboten, um der Weltöffentlichkeit die Schuld Eichmanns und das Ausmaß der Shoa vor Augen zu führen. Generalstaatsanwalt Hausner erklärte, worum es bei dem Prozess auch ging: „Ich wollte unseren Menschen daheim so viele Tatsachen der großen Katastrophe zur Kenntnis bringen, wie sich durch dieses Verfahren legitimerweise vermitteln ließen.“ Und die Israelis hörten nun ganz genau zu. Da der Gerichtssaal dem Besucherandrang nicht gewachsen war, wurde der Prozess live auf eine Leinwand im nahegelegenen Ratisbonne- Kloster übertragen.

 

Dan Suesskind war damals 17 Jahre alt. Immer wieder schwänzte er die Schule, um in dem Kloster dem Verfahren zu folgen: „Dort gab es mehr zu lernen als in der Schule“, erzählt der in Jerusalem geborene Sohn deutscher Juden, die 1936 nach Israel emigriert waren. Wie für viele Israelis seiner Generation wurde der Prozess für ihn ein unvergessliches, prägendes Erlebnis. Einen israelischen Fernsehsender gab es damals noch nicht, aber ein Großteil des Prozesses wurde vom öffentlich-rechtlichen Sender Kol Israel („Stimme Israels“) live im Radio übertraÜberlebende gewesen. Niemand habe sich für sie und ihre Geschichten interessiert, man habe sie einfach als „die, die von dort kamen“, bezeichnet und nicht weiter nachgefragt. Nachdem aber die Klasse in der Schule den Prozess am Radio verfolgt hatte, waren die Schüler auch bereit, die Geschichte der beiden Mitschüler zu hören: „Sie wurden dann zu den Helden unserer Klasse, wir waren jetzt in der Lage, das Heldentum des Überlebens anzuerkennen.“ Ohne den Eichmann-Prozess, davon ist Hausners Tochter überzeugt, „hätten viele Überlebende ihre Geschichten nie erzählt und mit ins Grab genommen“. Der Eichmann-Prozess wurde somit zu einem Wendepunkt der israelischen Erinnerungs- und Gedenkkultur. Der jährliche Holocaust- Gedenktag war zwar schon 1959 per Gesetz eingeführt worden.

 

Aber erst in der Folge des Prozesses wurde das Thema fest in den Unterrichtsplänen der Schulen verankert. Sie waren nun gehalten, sich in der Woche vor dem Holocaust-Gedenktag intensiv mit dem Thema auseinanderzusetzen. In den 60er-Jahren kam es auch zu den ersten Reisen israelischer Schülergruppen an die Orte der Shoa in Polen, die heute fest zum Bildungsprogramm israelischer Schüler gehören. Auch die Hochschulen des Landes nahmen sich damals der Shoa wissenschaftlich an: Die Bar-Ilan-Universität in Ramat Gan bei Tel Aviv richtete 1961 den ersten Lehrstuhl für Holocaust Studies ein, die Hebräische Universität Jerusalem folgte ein Jahr später. Israel war noch immer auf das tägliche Überleben, das Aufbauen und die Zukunft fixiert. Aber die Zeit war gekommen, sich mit der ganzen Dramatik der Vorgeschichte des Staates und seiner Menschen zu beschäftigen.


RALF GEBEL